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Klaus Wolschner - Medienkulturpraxis  -  
 
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Klaus Wolschner, 2022

Kurzer Überblick über die Stationen der Medien-Geschichte oder:
Wie digitale Massenkultur zur herrschenden Kultur wird

Die digitale Bühne scheint ideal für Selbst-Inszenierungen des „Ich“. Wir inszenieren unser „Selbst“ auf den Plattformen der digitalen Medien. Noch bevor sich zwei Menschen real treffen, „teilen“ sie ihre digitalen Identitäten. Wie alle eingebildeten Identitäten ist die elektronische Präsenz auch „real“, nicht einfach Schatten: Der „digitale Schatten" ist längst wesentlicher Teil des „Ich". Anders als andere eingebildete Identitäten ist die elektronische Präsenz für andere sichtbar, dadurch hat sie mehr Gewicht. 
Wie wichtig ist noch die körperliche Selbst-Wahrnehmung?

Die körperlichen „Techniken des Selbst“, die die boomenden Fitness-Clubs, Body-Beauty-Kanäle und Food-Shows, werden durch die neuen Medien geprägt. Gibt es noch eine leibliche Selbst-Wahrnehmung, die von digitalen Mustern unabhängig ist? Die Selbst-Inszenierung auf der digitalen Medien-Bühne ist attraktiv, weil jede und jeder sich da sichtbar „erfinden" kann. Völlig frei, so scheint es. Aber diese Selbst-Erfindungen sehen sich verdächtig ähnlich, weltweit. Hinter unserem Rücken vermitteln die digitalen Bilder einen globalen Konformismus.

Mit Marshall McLuhans Diktum, dass das Medium die Message ist, kann man sagen: Es ist unwichtig, wie sich einzelne Menschen da präsentieren, die entscheidende Veränderung passiert mit der Tatsache, dass die Selbst-Darstellung sich von der körperlichen Präsenz in digitale Techniken des Selbst verlagert. Es vereinheitlichen sich nicht nur die Welt-Bilder, sondern auch die Modelle des „Ich“.
Wer ist da Herr im Hause meines Ich? Welche Veränderungen neue Medientechnologien für das Selbst-Bild der Menschen haben, wird im historischen Rückblick auf frühere „Medienrevolutionen" besonders deutlich.

Renaissance der Körperbilder – als virtueller Medien-Bilder

Über 2000 Jahre lang war der „Körper“ in der abendländisch-christlichen Tradition ein Sinnbild der Sünde, der (tierischen) Instinkte. „Ich denke, also bin ich“ hat René Descartes diese leibfeindliche Philosophie auf eine Kurzformel gebracht. Es gab Denis Diderots „geschwätzige Muscheln“ (Les Bijoux indiscrets) und de Marquis de Sades Romane über dasMissgeschick der Tugend“, aber das waren illegal verbreitete Texte, die vor allem Hinweise darauf geben, was in der aufklärerischen Kultur unterdrückt wurde.

Erst mit der massenmedialen Verbreitung gedruckter Bildnisse im 19. Jahrhundert drängte der Körper auf die kulturelle Bühne und erzwang Aufmerksamkeit im menschlichen Selbstbild der akademischen Kultur. Daher erklärt sich am Beginn des 20. Jahrhunderts die bildungsbürgerliche Sorge darüber, was die populäre „Bilderflut“ mit den Menschen machen würde. Ein zentrales Thema des frühen Films ist die „Entdeckung“ des Körpers und seiner Gelüste. Er wird aus der Schmuddelecke herausgezerrt und in Illustrierten, auf der Kinoleinwand und schließlich im Theater von allen Seiten beleuchtet. Man (und frau) darf sich zu den eigenen leiblichen Bedürfnissen bekennen.

Die Dominanz der Bilder in der digitalen Medienkultur entmachtet die Priester der Vernunft, die im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert die Schrift-Medien beherrschen konnten. In den digitalen Medien spiegeln sich – erstmals in der Geschichte der Medien – die Weltbilder und die Selbst-Bilder von Jedermann.

Die „Individuen“ des 21. Jahrhunderts sind nicht mehr die besonderen Roman-Figuren, sondern normale Menschen. Also die, die im Zeitalter der mündlichen und der Schrift-Kultur als „Masse“ bezeichnet wurden. Die Masse musste gezüchtigt und zivilisiert werden, sie kommt in den schriftlichen Zeugnissen der Zeit nur als Objekt vor. Wer zur Masse gezählt wird, hatte keine Chance, als einzigartiges Individuen zu gelten. 

Das Regime der Einschaltquoten im Fernsehen und vor allem das Potential der digitalen Medien, die jedermann zum Sender werden lassen, machen die Massenkultur zur herrschenden Kultur. 

In dem Jahrzehnt der „1968er“ versprach der Hedonismus der Hippie-Kultur noch die Befreiung des „eindimensionalen Menschen“ von den bürgerlichen Charakterpanzerungen (Herbert Marcuse, Wilhelm Reich). Aber die Revolte des Körpers wurde weitgehend in der Freizeit-Kultur eingehegt: Inzwischen integrieren Manager-Berater eine Prise Hedonismus in den Terminkalender zum Feierabend – als entspannenden Ausgleich für die eingeforderte Arbeitsdisziplin im Sinne der work-life-balance.

Mit dem Fernsehen und fortgesetzt in der digitalen Bilderflut begann gleichzeitig ein Prozess, mit dem die Erlebnisse körperlichen Vergnügens und Genusses sich ins Virtuelle verlagerten: Wir sehen jede Woche nicht nur Dutzende von Morden auf dem Bildschirm, sondern auch Dutzende von erotischen Erlebnissen. Das eigene körperliche Erleben wird beinahe langweilig im Vergleich mit diesem Medienzauber.

Digitale Medienrevolution oder Medien-Evolution?

Wenn wir heute über die Bedeutung digitaler Medien reden, müssen wir uns klarmachen, dass die Menschen gerade erst seit einer Generation an verschiedene Aneignungsweisen digitaler Kommunikations-Techniken herantasten. Noch nie haben die Menschen, wenn sie „neue Medien“ zu nutzen begannen, begriffen, was die mittel- und langfristige Bedeutung dieser neuen Medienpotentiale für die menschliche Kultur und für das menschliche Selbst-Verständnis war.

Kommunikationsmedien werden von Menschen genutzt, um „sich selbst“ darzustellen – in einer medienhistorischen Perspektive ist aber offenkundig, dass die Aneignung von Kommunikationsmedien den Menschen verändert: Der Mensch ist Objekt der medientechnischen Potentiale, auch wenn er sich gern als Subjekt fühlt.

Der Begriff der „Medienrevolution“ ist sozusagen ein pädagogischer – mit ihm lassen sich Momente der Mediengeschichte markieren, an denen manchmal unscheinbar erscheinende Neuerungen die Tür zu neuer Dynamik oder zu großen Veränderungen öffnen. „Medien-Revolutionen“ sind immer Medien-Evolutionen – die „Aneignung“ neuer Kommunikationsmedien nimmt über Jahrhunderte immer neue Formen an. Nichts spricht also dafür, dass man schon während der Geburtswehen der neuen digitalen Verbreitungstechnik eine Idee davon gewinnen könnte, wie die Menschen sie sich später einmal „aneignen“ (können) und wie diese neue Verbreitungstechnik die Menschen verändern wird.

Mediengeschichte 1: Selbst-Inszenierung mit der akustischen Lautsprache

Die „erste“ Kommunikationstechnik der Menschheitsgeschichte ist die Sprache, die die akustische Kommunikation der Tierwelt revolutioniert hat. Kein Menschenaffe wurde gefragt, ob er das gut oder schlecht findet. Tiere haben ein Empfinden für ihren Körper, aber kein bewusstes Ich - bis heute ist das Kommunikationsmedium Sprache zentral für die Ausformung des Selbst-Bewusstseins. Das archaische Selbstbewusstsein war eines der Mythen und der Trance. Erst mit der Schrift hat der homo sapiens das entwickelt, was wir als rationales Denken begreifen. Die Gelehrten der Schrift bildeten Jahrhunderte lang eine kleine, elitäre Minderheit.

Die Schrift als visuelle Fixierung der Laut-Sprache hat begonnen als religiöse Herrschaftstechnik, zu bewundern an den ägyptischen Tempeln. Angebracht teilweise in 20 Metern Höhe – lesbar nur für die Götter, nicht für die kleinen Menschen. Die Schrift war über 2000 Jahre lang Herrschaftstechnik der Machthaber, der Priester und Schriftgelehrten.

In der griechischen Antike setzte auf der Grundlage der Schriftkultur ein „vernünftiges“ Nachdenken ein, das das mythologische Denken ablöste. Der Mensch betrachtete sich als Krone der Schöpfung, weil er über eine Vernunft verfügt. Erst die Visualisierung der Sprachlaute ermöglichte das logische Denken - „the Medium is the Message“. Über 2000 Jahre lang herrschte im religiös-philosophischen menschlichen Selbst-Bild die Vernunft über den (sündigen) Körper, damit herrschten die Repräsentanten der Schriftkultur über das Volk, von dessen tierischer Unvernunft und Körperlichkeit die Gebildeten sich distanzierten.

Mediengeschichte 2: Vom Buchdruck zur Aufklärung

Auch Johannes Gutenbergs erste „Bücher“ waren - geschrieben auf Lateinisch - noch Herrschaftsinstrumente. Erst mehrere hundert Jahre nach Gutenbergs Erfindung der Drucktechnik mit beweglichen Lettern wurde der Buchdruck zum Medium der Aufklärung für alle – gegen die herkömmlichen Herrschaftsstrukturen. Gutenberg wäre sicherlich schockiert gewesen, wenn man ihm gesagt hätte, welche Ideen mit Hilfe seiner Technik da verbreitet werden. Die Aufklärung war verbunden mit dem Machtanspruch einer neuen Elite. Das Volk wurde mit der Einführung der Schulpflicht gezwungen, seine mundartliche Sprache (Dialekte) aufzugeben und mit der Schriftsprache der Gebildeten auch die geistige Welt der Gebildeten zu übernehmen.

Die gesellschaftliche Aneignung der Schrift als Kommunikationsmedium hat eine lange Geschichte. Auch für den aufklärerischen Diskurs war der Mensch ein Vernunftwesen, Emotionen und Körperbedürfnisse blieben für die Vernunft unbegreiflich, also „irrational“, bedrohlich. Mit Julien La Mettrie, Denis Diderot oder Marquis de Sade, die die Wiederentdeckung der Natur in den höheren Kreisen der Aufklärung verbreiten wollten, waren als Autoren illegal.

Mediengeschichte 3: Digitale Medien

Die digitale Technik revolutioniert die alten Kommunikationsmedien – die mündliche Rede, die Verbreitung der Schrift und der visuellen Artefakte.

Man kann sich den Bruch nicht drastisch genug vorstellen: Lesen lernen hieß am Anfang für das Volk, den Katechismus „selbst“ lesen zu lernen. 200 Jahre lang wurde dem Volk in der Schule eingetrichtert (und es durfte sich aneignen), was die Elite der Gebildeten geschrieben hatte.
Erst das Internet entmachtet die Bildungselite. In der Aktivität der sozialen Medien ist die Begeisterung der Vielen darüber zu spüren, dass sie - endlich – auch ihre Meinung im Medium „Schrift“ verbreiten können.

Mediengeschichte 4:  Visuelle Artefakte, Körperbilder

Wenn wir sehen, wie heute Gläubige in Kirchen vor einem Marienbild niederknien und zur Mutter Gottes reden, bekommen wir eine Ahnung davon, wie visuelle Artefakte in ihrer Frühzeit benutzt und „angeeignet“ wurden. Visuellen Artefakten (Kunstwerken) ist am Anfang ihrer Mediengeschichte in aller Regel eine magische Kraft zugerechnet worden. Der in der Bibel erwähnte „goldene Stier“ ist eben eine Gottheit, andere Götter wollte der biblische Gott neben sich nicht dulden. Die griechischen Götterstatuen wurden gewaschen, ihnen wurde Nahrung hingelegt. Die Zerstörung einer Götterstatue war so sehr ein „Sakrileg“ wie die Verbrennung einer Staatsfahne noch heute.

Wir spüren auch heute noch die besondere emotionale Wirkung der Bilder. Vor der Erfindung des Spiegels im 17. Jahrhundert  konnten Menschen ihren Körper nur in der Waschschüssel sehen, also flüchtig, verzerrt. Man bzw. frau spiegelte sich in der Wahrnehmung des Gegenübers, das Bild des „Ich“ war geprägt von der Widerspieglung im „Wir“. In den Mode-Inszenierungen des Adels, die den Körper durch Kleider-Masken verdeckten, wurde die gesellschaftliche Stellung visuell konstruiert und zur Schau gestellt. Bilder als schlichte Abbilder gibt es erst mit der massenhaften Verbreitung preiswerter Reproduktionen – zunächst in Form von Holzschnitten, dann Kupferstichen, schließlich Fotografien.

Die heutigen Aneignungsweisen der visuellen Kommunikations-Medien, der „Bildern“, erinnern kaum noch an ihre anfängliche Bedeutung. Erst die Techniken des Spiegels (seit dem 16. Jh) ermöglicht es, sich selbst zu sehen, zunächst war das ein teures Vergnügen. Im 19. Jahrhundert wurden die visuellen Artefakte alltäglich. Es konnte sich die Vorstellung durchsetzen, dass Artefakte eben nur „Abbilder“ sind. Das bedeutet: Es gibt eine tausendjährige Geschichte der Aneignung von „Bildern“. Unser Schädelknochen hat hinter den Augen nur zwei Löcher für die Bild- und die Schriftzeichen. Alles, was wir sehen, der ganze Sinn der Bildzeichen und Schriftzeichen entsteht erst im Gehirn.

Mediengeschichte 5:  Die Evolution der Demokratie

Die Forderung nach Pressefreiheit begleitet die Entwicklung demokratischer Bewegungen, die Realisierung der Pressefreiheit war die Grundlage für die Demokratie im 20. Jahrhundert. Die Bürger einer „Nation“ mussten regelmäßig informiert sein über die Angelegenheiten ihres Staates, bevor sie den Anspruch erheben konnten, regelmäßig mitzureden in Form der Wahl der regierenden Eliten. Noch 1965 konnte der Journalist Paul Sethe formulieren: „Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.“ Die Millionen konnten Zeitung lesen und zuhören. Digitale Medientechnik bedeutet demgegenüber, dass Millionen ihre Meinung verbreiten und dass die Mächtigen und „die Reichen“ zuhören müssen.

Was das für die Demokratie bedeutet, ist bisher kaum absehbar. Krisensituationen wie die Corona-Pandemie zeigen, dass die Menschen sich in komplizierten Situationen vollkommen überfordert fühlen und gern denen vertrauen, die mit autoritären Gesten den Eindruck erwecken, sie wüsste, was gut und richtig ist.